2003 Salzkirche

Lapidarium

Personalausstellung

Konzert- und Ausstellungsgebäude Salzkirche

Tangermünde, 10.5. bis 12.6. 2003

„Kosmisches Ereignis“ Öl auf Hartfaser, 140 cm x 100 cm, 2004
„Kosmisches Ereignis“ Öl auf Hartfaser, 140 cm x 100 cm, 2004
„Emotionales Verständnis“ Öl auf Hartfaser, 140 cm x 100 cm, 2003
„Emotionales Verständnis“ Öl auf Hartfaser, 140 cm x 100 cm, 2003
„Palimpsest“ Öl auf Hartfaser, 140 cm x 100 cm, 2004
„Palimpsest“ Öl auf Hartfaser, 140 cm x 100 cm, 2004
„Ruhepunkt“ Öl auf Hartfaser, 140 cm x 100 cm, 2004
„Ruhepunkt“ Öl auf Hartfaser, 140 cm x 100 cm, 2004
Kerstin Alexander: Gemälde Markierungen
„Markierungen“ Öl auf Hartfaser, 140 cm x 100 cm, 2004
Kerstin Alexander: Gemälde Script
„Script“ Öl auf Hartfaser, 140 cm x 100 cm, 2004

„Lapidarium“ Malerei, Grafik, Buch

Kerstin Alexander hat zu ihrem Bilderzyklus ,,Lapidarium“ gesagt: ,,Ich finde etwas, was ich nicht sagen kann“. Aber sie konnte ihre Funde und Erfindungen aufheben, aufbewahren und nun zeigen. Ausgangspunkt dieser Bilder waren Abreibungen, ,,Frottagen“ von alten Grabsteinen, genauer: deren Inschriften. Details daraus wurden übertragen und vergrößert – die Malgründe. Die sind in mehreren Arbeitsgängen übermalt worden, untere Schichten teilweise abgedeckt und dann wieder hervorgeholt. Das Ergebnis sind so mehrfache wie mehrdeutige Überlagerungen.

Was da einander durchdringt & überlagert sind Quintessenzen von Biographien (die Grabsteininschriften), Lebenszeit derer, die die Bilder machte – kleine Stücke ihrer Biographie im Sinne des Wortes und schließlich fordert und braucht es unsere Lese- und Lebenszeit. Eingegangen in diese Bilder ist skripturales (schriftliches), gestisches (gemaltes) und zeichenhaftes. Gegen die ,,lapidaren“ Steininschriften malt die Künstlerin schreibt sie an und in sie ein: ihre Schreib- und Lebenszeit. Aus ihren Mal-Gesten mit Farben wurden Farb-Formen, Bewegungsspuren der malenden Hand. Das Zeichenhafte schließlich – zwischen abzeichnen und kennzeichnen – das Zeichenhafte geht in den Bildern vom Schriftzeichen zum Sinn-Zeichen, ihre Zeichen sind selbst gezeichnet und sie bezeichnen etwas. Intensität und Auswahl der Eingriffe, Hinzufügungen, Schichten und Überlagerunge variieren von Bild zu Bild, führen zu verhaltenen oder vehement bewegten Bildgestalten. Für die in sich und untereinander so verschiedenen und mehrdeutigen Gemälde sind die Titel Fingerzeige für einen Zugang:

So gilt „Palimpsest“ mehr oder minder für alle Bilder – ursprünglich die Bezeichnung für Papyri oder Pergamente, von denen ein alter Text herunter gekratzt und die neu beschrieben wurden – weist er hier im übertragenen Sinne auf das Durchscheinen und wieder hervorkommen früherer partiell übermalter Bildschichten. Der Titel „Emotionale Erkenntnis“ verweist auf die Entstehung der Gemälde im und als Dialog zwischen Künstlerin und Bild: Fragen etwa danach, wie weit die Bildhaut mit einer Farbfläche geschlossen wird, wie viel Untergründiges stehen und zu sehen bleiben soll, wie das Verhältnis zwischen großer Gesamtform und Binnenformen werden soll und wie das von Stimmung und Störung – solche Fragen entscheiden sich, in mehreren Schritten im Dialog mit dem werdenden Bild. Wann, in welchem Moment es geworden ist, das ist keine rationale Entscheidung, sondern eben: „Emotionale Erkenntnis“. In diesem Bilderzyklus stecken Bezüge zur Neuen Typographie der 20er und 30er Jahre wie zu Spiel-Arten des „nouveau realisme“ der 50er und 60er – experimentelle Typographie, visuelle Poesie, Frottagen, Decollagen etc. Ihr anderer Pol kommt aus der gestischen Malerei des abstrakten Expressionismus und der ecole de Paris, bei der die Hand- und Körperbewegungen des Malers unmittelbar Form werden und das Bild zeugen. Diese Bilder sind keine Staffeleibilder, beim Malen kein senkrechtes Gegenüber sondern liegen auf dem Boden oder einem Tisch, die Malerin geht von allen Seiten auf sie zu und ein. So entsteht die ,,all over“ genannte Gleichberechtigung aller Teile des Bildes, die nicht hierarchisch geordnet sind und nicht eindeutig räumlich orientiert. Neben ihrer Mehrdeutigkeit zeichnet viele von ihnen so- mit auch eine Mehr-Ansichtigkeit aus. (Für die Hängung ihrer Bilder hat sich die Künstlerin für¸ ihre Vorzugsvariante der Präsentation entschieden, andere wären möglich etwa hoch statt quer oder oben und unten vertauscht). Bildtitel wie „Schichtung“, „Bewegte Zeit“ oder „Langer Weg“ verweisen auf den Zusammenhang von Entstehen und Bedeutung der Gemälde. Es sind Bilder, nicht Abbilder von Gegenständen, gebildet aus Elementen und Prozessen. Dabei verwendet Alexander Schnittelemente als Realitätspartikel und fügt sie in neue Zusammenhänge. So wird aus Lebenszeit, Arbeitszeit Raum: der Raum des Bildes als gegenständlich und geistige Herausforderung. Ihre Bildräume gewinnt die Malerin auf unterschiedliche Weisen: Teils sind es Grisaille-Malereien, grau in grau zwischen schwarz und weiß stärker graphisch als malerisch, weil eher aus lebendigen Linien als farbigen Flächen bestehend oder es sind mehr oder minder offene Durchdringungen von realen Schnittteilen und fiktionalen Farb-Form-Flächen oder schließlich fast ganz geschlossene Bildhäute und Bildoberflächen durch die stellenweise scheint, was dahinter, darunter & dazwischen ist. Für Kerstin Alexanders Bilder konstitutiv ist die wiederkehrende Verwendung von Zeichen als konventionelle Bedeutungsträger, Sinnvermittler und Assoziationsauslöser. Zeichen von ganz schlichter Art – gerade oder Zickzacklinien bis zu hochkomplexen Symbolen wie dem Kreis, der die Welt und den Anfang bedeuten kann und dem Kreuz als Symbol der Mitte, der Verbindung zwischen Erde und Himmel, Zeit und Ewigkeit. Mit ihrem Lapidarium – das heißt Aufbewahrungsort alter Steine – hat Kerstin Alexander, gar nicht lapidar, sondern heftig bewegt und kraftvoll gebändigt Steine zum Sprechen gebracht und lebendig werden lassen.

Eröffnungsrede, gehalten Sa. 10. Mai 2003 in der Salzkirche Tangermünde
T.O. Immisch, Kustus der Staatlichen Galerie Moritzburg Halle